Wenn die Katze zum Botschafter wird

Nichts für „Weicheier“

Wer schwache Nerven hat wird bei diesem Buch in die Knie gehen. Das steht fest. „Als ich aus der Zeit fiel“ ist keine leichte Kost. Menschen mit blühender Fantasie oder mit einem hohen Maß an Empathie werden jede Zeile des Gelesenen selbst durchleben. So ging es mir. Aber das wundert mich nicht. Sich in andere Menschen hinein zu versetzen gehört zum meinem Beruf als Journalistin. Also habe ich mir vorgestellt, wie das sein muss, wenn man Stimmen hört, wenn sich scheinbar jede Bewegung, Äußerung, Begegnung auf die eigene Person bezieht. Man also quasi ständig von seiner Umgebung observiert oder mit Botschaften überschüttet wird. Mitleid will Jens Jüttner sicher keines, aber man hat es automatisch, wenn der Mann über seine zehn Jahre währende Leidenszeit als ein an paranoider Schizophrenie Erkrankter schreibt.

Das tut er übrigens verdammt gut. Und verdammt ehrlich. Verständlich noch dazu. Schonungslos könnte man es auch nennen. Sein Ziel ist klar: Jens Jüttner (Jahrgang 1976) will aufklären. Jens Jüttner will anderen Menschen Mut machen. Beides gelingt ihm in diesem schmalen Bändchen, bei dem jede Seite schwerwiegend ist – eine Mischung aus Fach- und Tagebuch.

Das sind die, die spinnen?

Schizophrene, das sind doch die Menschen, die mit ihrem Blick und vor sich hin faselnd durch die Gegend laufen? Die nicht ganz richtig sind? Die Irren? Wenn man gemein sein wollte, dann würde man das so sagen. Was viele aber nicht wissen: Ein an Schizophrenie erkrankter Mensch sucht sich das nicht aus. Er kann schlicht und einfach nichts dafür. Dass äußere Reize ungefiltert auf ihn eindringen – so schildert Jens Jüttner das – ist die Folge eines organischen Leidens. Das Gehirn hat sozusagen Fehlschaltungen. Die Crux an der Geschichte: Der Betroffene muss das erst mal realisieren, dass seine Wahrnehmungen nicht real sind. Für ihn ist alles wahr, was er empfindet, und dass eine vorbei streunende Katze ihm eine Botschaft schickt geschriebenes Gesetz.

Ein Albtraum, der zehn Jahre dauert

Seinen Wahrnehmungsverschiebungen kommt Jens Jüttner irgendwann auf die Schliche. Aber bis er seinen zehn Jahre währenden Albtraum – den er bei seiner Arbeit in einer Anwaltskanzlei zu unterdrücken versucht – loswird hat er einen langen Weg vor sich, der immer wieder mit Haltestationen in psychiatrischen Einrichtungen versehen ist. Medikamente sind unabdingbar, um sein Gehirn in die richtigen Bahnen zu lenken beziehungsweise die Schleusen zu regeln, die das Dopamin durchlassen. Kurzum: die Stoffwechselerkrankung des Gehirns, die genetisch bedingt sein kann, zu behandeln. Aber welche Medikamente? Und wenn ja, wie viele? Welche Therapie? Oder gar keine?

Das dauert. Für Jens Jüttner ist es offenbar verständlich, dass seine Frau den gemeinsamen Weg irgendwann verlässt. Weil sie am Ende ihrer Kräfte ist. Ihm selbst geht es erst ab dem Zeitpunkt besser, als er sich aus allem, auch beruflich, heraus nimmt und versucht, seinen Ängsten nicht mehr auszuweichen. Die und alle Begleiterscheinungen der Schizophrenie lassen, so schreibt er, immer mehr nach, je älter man werde. Jenseits der 60er-Grenze seien Medikamente kaum noch nötig. Abwarten will das sicher keiner. Jens Jüttner ist heute: Schwimmlehrer statt Anwalt. Ehrlich gegenüber sich selbst und anderen gegenüber. Eine Grundvoraussetzung, dass Ärzte überhaupt helfen können, wie er sagt.

Dass Jens Jüttner mit seiner Erkrankung umgehen kann: Gratulation. Gratulation auch zu diesem Buch. Es ist: Das Tabu-Thema anzupacken ist überfällig. Es ist schnell gelesen, hallt aber lange nach.

Jens Jüttner: Als ich aus der Zeit fiel. Mein Weg durch die paranoide Schizophrenie. pinguletta Verlag. ISBN 978-3-948063-11-5. 13,90 Euro. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Joachim Cordes, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Florence-Nightingale-Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonie Düsseldorf.

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