Tanz zwischen Topfpflanzen

„Being human“ – wir sind alle Menschen

Das waren noch Zeiten, als man ins Stadttheater Pforzheim gehen konnte, um sich Schulter an Schulter in ein gemeinsames Tanzerlebnis zu begeben. Wer die Uraufführung von „Die vier Jahreszeiten“ unter der Regie des Ballettdirektors Guido Markowitz gesehen hat, die am 25. Januar zum ersten Mal auf der großen Bühne gezeigt wurde, der hat unvergessliche Bilder in seinem Kopf gespeichert. Eindrucksvoll. Kraftvoll. Sensibel. Zum ersten Mal auch wurde dem Tänzer Abraham Rodriguez Iglesias eine Solisten-Rolle auf den geschmeidigen Leib geschrieben.

Bilder, die auf der Netzhaut bleiben

Während sich beeindruckende, faszinierende, bewegte Bilder auf der Netzhaut eingebrannt haben dürfte hat sich unversehens auch die von Max Richter neu interpretierte Musik von Antonio Vivaldis Jahreszeiten in den Gehörgängen eingenistet haben. Und das ist schön. Denn eines ist bei aller Bemühung in Corona-Zeiten um wenigstens einen Hauch von Kultur und damit auch Weiterleben des Ballettensembles auch klar: Eine Live-Inszenierung kann nichts ersetzen. Da ist unbestreitbar im Vorteil, wer die leibhaftige Inszenierung noch aus der Erinnerung abrufen kann beim Abrufen des Videos auf der Internetplattform VIMEO und mit einem Youtube-Link anzuschauen (siehe Info). Denn dort tanzt das zu klosterähnlichem Verschluss verdonnerte Ensemble weiter. Anders und doch der Welturaufführung verhaftet. Es ist so gesehen nicht nur eine Neuauflage der „Vier Jahreszeiten“, sondern wiederum einen Welt-Uraufführung als Gemeinschafts-Video-Projekt. „Being human“ genannt. Mensch-Sein? Sei Mensch? Sei menschlich? Wir sind noch da als Menschen? Wohl alles zusammen genommen in diesem Experiment, das Guido Markowitz auf einen Impuls von Intendant Thomas Münstermann hin wagt mit seinen Tänzern und Tänzerinnen.

Der Charme des Experiments

Und das hat was? Einen ganz eigenen Charme nämlich. Jedes einzelne Mitglied des Ensembles hat voneinander abgetrennt in den Privaträumen eine Kamera aufgestellt. Und diese wird insgesamt vier Mal aufzeichnen, wie das Ensemble durch die Jahreszeiten tanzen. In ihrem Wohnzimmer zwischen Topfpflanzen und Fernsehgerät. Im Schlafzimmer, die Matratze des Futons mit einbeziehend (im Hintergrund das zusammengeklappte Bügelbrett hinter der Schrankwand). Auf der Terrasse, wer denn eine hat. Natürlich tun dies die Tänzer und Tänzerinnen nicht im Schlafanzug oder in ausgebeulter Jogginghose. Sie haben ihre von Marco Falcioni entworfenen Originalkostüme an. Und sie sind frei in ihrer Gestaltung, die Elemente des Tanzes sind wiedererkennbar, müssen aber natürlich an die räumlichen Gegebenheiten angepasst werden. Große Sprünge sind da nicht drin. Vielleicht wird deshalb jede Mimik, jede noch so kleine Bewegung bedeutsamer. Eindrücklicher. Und da wird auch der Vorteil dieser Inszenierung, bei der die Ausschnitte wechseln, nebeneinander gestellt werden und zuletzt als eine Art Mosaik das Ensemble am Bildschirm dann doch wieder zusammenführt auf eine Bühne, klar: Man kommt den Tänzern und Tänzerinnen nah. Ganz nah. Und ist so noch mehr mitten im Geschehen als es bei einer Live-Aufführung im Theater der Fall wäre. Großartig, interessant, amüsant, aufregend. Und besser als nichts. Viel besser.

INFO

Das mit Hilfe des Kölner Videofilmers und Tänzers Michael Maurissens Reenactment des Balletts „Die vier Jahreszeiten“ trägt den Titel „Being human“ und besteht entsprechend des Inhalts und der Struktur der Bühnenfassung aus vier Videoclips. Zu sehen, sehenswert, auf youtube.

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