Tanz trifft auf Film: Eremiten
Es ist nur äußerlich ein Stillstand gewesen. Innerlich ist die Pforzheimer Ballett-Kompanie die ganze Zeit über beweglich geblieben, hat mutig und letztlich sehr anmutig Corona-Hürden genommen. Wer rastet, der rostet sagt ein Sprichwort. Um wie viel mehr gilt das für ein Ballett-Ensemble, dem durch Lockdown der sprichwörtliche Boden unter den tanzenden Füßen weg gezogen wurde. Ein Ensemble, das sich wahrhaft in seiner Existenz bedroht sieht und um seine Daseinsberechtigung kämpft. Und kämpfen, das können sie, das tun sie, ganz offensichtlich. Wie ein zweiter, sehr aufwändig produzierter – im so genannten und vom Land geförderten „Digital Dance Lab“ auf Anstoß von Tanz-Dramaturgin Alexandra Karabelas entstandener Ballett-Film nun zeigt. Eremiten heißt das halbstündige, aufwändige Werk, das seine Premiere im Kino feierte und nun sechs Wochen lang im Untergeschoss des Pforzheimer Schmuckmuseums zu sehen sein wird. Es ist ein tiefer und durch die heranzoomende Kamera noch verstärkter Einblick in das Seelenleben der Tänzerinnen und Tänzer, fast schon ein Seelenstriptease.
Tänzer und Filmemacher: Mirko Ingrao
Lockdown, leere Zuschauerränge, verwaiste Bühnen: Für den Tänzer und Absolvent der New Academy of Arts Mailand Mirko Ingrao glich dieser Pandemie-Zustand einer Wüste. Um die Leere und Stille zu empfinden, die man einer Wüste zuschreibt braucht es seiner Meinung nach auch „keine Berge von Sand“. Einen ganzen Berg Arbeitsstunden vielmehr hat der junge Mann zusammen mit der Pforzheimer Ballett-Kompanie angehäuft, um in diese durch Corona bedingte Leere „neues Leben reinzubringen“ und in der Wüste den dort lebenden Eremiten zu begegnen. Der Zuschauer darf mitgehen, muss allerdings einiges aushalten: an optischen Eindrücken, die sehr sprunghaft und vielschichtig sind, mal in Nahaufnahme ein reiches Seelenleben preisgebende Gesichter zeigt, was sich bis hin in die sensiblen Fingerspitzen bemerkbar macht. Mal die Umgebung an der gluckernden Enz mit frühlingshaftem Grün einbeziehend, in der eine Tänzerin mit wehenden Haaren auf jeden Fall Hoffnung symbolisiert. Mirko Ingrao hat in der aufwändigen Vorbereitungsphase die Ensemblemitglieder gebeten, sich – „Tänzer sprechen sonst nie“ – mit Worten über ihren Seelenzustand zu äußern. „Ich war überrascht“, sagt er auf Englisch bei der Vorstellung des Films im Kommunalen Kino Pforzheim. Es ist ein ambitioniertes Projekt, das Mirko Ingrao umgesetzt hat.
Die Seele des Tanzes offenbart
Es basiert auf dem von Ballettchef Guido Markowitz in emotionaler Weise umgesetzten und bereits vor einem halben Jahr mit einem „Streaming-Appetizer“ online in Szene gesetzten Stück „Brahms – Glaube Liebe Hoffnung“. Mit dieser Verquickung von Tanz und Film wird der Versuch unternommen, die Seele des Tanzes, die Essenz zu offenbaren. Zu zeigen, was sich unter der Oberfläche der durch Muskelkraft bewegten Körperglieder verbirgt, an Prozessen im Gehirn abspielt auf dem Weg zu einer an Emotionen reichen Produktion. Zumindest bekommt man eine Ahnung davon, wird der ansonsten eher den tanzenden Körper als Ganzes wahrnehmende Zuschauer sehr nah nicht nur an die den tänzerischen Willen ausformenden Muskeln herangeführt, sondern auch der Mimik und Gestik der Gesichter gewahr. Und sieht: Die Tänzerinnen und Tänzer leben, was sie tanzen. Im Kino werden die Zuschauer aber nicht unbedarft und unvorbereitet an die vor allem sich auf den – zwischen der Figur der Liebe und der der Hoffnung fast zerriebenen – Hauptfigur „Glaube“ herangelassen. Es ist sozusagen ein Appetizer, ein Vorgeschmack auf die für März 2022 anvisierte Live-Premiere des Stückes „Brahms – Glaube Liebe Hoffnung“, ein filmerischer Ausschnitt mit mehreren Perspektiven. Die Live-Atmosphäre fehlt, aber der Film hat wiederum den Vorteil, dass man den Tänzerinnen und Tänzern (als auch dem im Hintergrund spielenden Orchester der Badischen Philharmonie Pforzheim) so nah kommt wie sonst nie. Man sieht den Puder auf der Haut, fällt fast in die aufgerissenen Augen, macht körperlich fast die Drehungen mit. Zusätzlich sorgt ein weiteres Filmfenster für eine weitere Perspektive, die durchaus auch einmal Backstage an den Schminktisch führen kann.
Kein Abfilmen, sondern eine Kunstform
Auch hier ist es nicht nur ein „Abfilmen“; allein die Kameraführung ist ein Kunststück an sich. Im zweiten Teil des Abends wird diese Kunstform der Transformation von Tanz in Film noch gesteigert, indem Mirko Ingrao nicht nur Naturszenen, Stadtszenen mit der Kamera einfängt; er lockt die Tänzerinnen und Tänzer in „Eremiten“ ebenfalls nach draußen. So ist eingangs zu sehen, wie sie Schaufensterpuppen gleich durch die Stadt getragen werden. Steif. Stumm. Offenbar gänzlich unberührt von der Umgebung. Keine Sorge. Es kehrt Leben in sie zurück – und wie. Ästhetische, gleichzeitig spannungsgeladene Schatten von Händen und Körpern finden sich auf den Mauern der Stadt wieder. Ein nackter, auf den Schultern stehender und dadurch kopflos wirkender Körper tastet sich an der prägnanten Kieselwand im Innern des Schmuckmuseums empor. Unter einer Brücke spielt ein Tänzer mit Schatten und Licht, mal im Dunkel des Schattens nur noch schemenhaft erahnbar, mal ins gleitende Sonnenlicht springend sich offenbarend. Glaube, Liebe, Hoffnung – die Themen des Brahms-Stückes von Guido Markowitz sind natürlich allgegenwärtig. Der seelisch-emotionale Kern des Stücks, die Erzähllinie von Guido Markowitz wird aufgegriffen, die Mit-Autorenschaft der Tänzerinnen und Tänzer sichtbar. Noch sichtbarer im Film. Der Glaube tastet sich darin in Persona – das ganze Gesicht inklusive Augen von Bandagen bedeckt – vorwärts, immer wieder von dunklen Emotionen irritierend berührt, umtanzt, bewegt. Surreal, poetisch, manchmal anstrengend, aber immer spannend. Wohltuend. Das Wasser des Bachs sprudelt den Berg hinunter, die fließende Bewegung wird von einer Tänzerin aufgegriffen, die erfrischt zu neuem Leben erwacht. Ein Arm nimmt hinter einem Felsen einer Wasserschlange gleich sich ihr entgegenwindend Kontakt auf. Es folgt ein Tänzer aus dem Grund des Baches, beide vereinen ihre Bewegungen in fließender Gestik.
Der Stein des Anstoßes, der Stein der Sünden
Und dann steht da auf einmal ein Stein auf dem Tisch. Die Tänzerinnen und Tänzer, von denen nur der Oberkörper zu sehen ist, begegnen ihm wütend, gestikulierend, verzweifelt lachend, schmeichelnd, ihn ignorierend, Hände greifen nach ihm, er fällt auf einen Spiegel. In den Scherben setzt sich die Person neu zusammen. Der Stein symbolisiert laut Ballettchef Guido Markowitz die Sünden. Im Abspann des auf künstlerisch und technisch hohem Niveau agierenden Films von Mirko Ingrao liegt der Tänzer nackt hingegossen auf den Bodenfliesen des Museums und wird von verschiedenen Personen mit Steinen bedeckt. „Is there… hope?“ flüstert eine Stimme. „If not I´m gone“. Ist da Hoffnung? Ansonsten bin ich weg. Bin ich verloren. Ja, da ist die Hoffnung. Das nimmt nicht nur Koki-Geschäftsführerin Christine Müh nach eigenen Worten aus diesem Abend mit. Die Hoffnung, sie ist in der Tat ein ständiger Begleiter und wagt sich wie eine Pflanze, die die Frühlingsluft wittert, zaghaft aus dem Boden hervor: So ist das Ballett-Ensemble laut Ankündigung von Alexandra Karabelas zuversichtlich, im März 2022 endlich mit „Brahms – Glaube Liebe Hoffnung“ vor dem Publikum im Stadttheater Pforzheim auftreten zu können. Für alle Interessierte, denen die Koki-Geschäftsführerin Christine Müh am Freitag die Tür weisen musste (aktuell ist das Kino mit 54 Besuchern ausverkauft): Am Dienstag, 11. Januar, wird der Film „Eremiten“ ab 19 Uhr im Kommunalen Kino wiederholt. „Eremiten“ ist das zweite filmerische Experiment des Balletts. „Being Human“ hieß das erste, das innerhalb des vom Land geförderten „Digital Dance Lab“ entstanden ist. Wer auch am 11. Januar keine Zeit hat sollte das Schmuckmuseum im Reuchlin-Haus besuchen: Dort sind die „Eremiten“ sechs Wochen lang im Untergeschoss Zuhause.
Weitere Informationen unter www.theater-Pforzheim.de
Foto-Hinweis: Das Gruppenfoto entstand im Kommunalen Kino (Premiere am 7.1.2022) – es zeigt Tanzdramaturgin Alexandra Karabelas, Ballettchef Guido Markowitz (hinten), Tänzer und Filmemacher Mirko Ingrao (vorne). Foto: Susanne Roth
Die restlichen Fotos sind alle aus dem Film von Mirko Ingrao und wurden freundlicherweise vom Stadttheater Pforzheim zur Verfügung gestellt.