Emanze Maria an Bord

Maria und ein Schiff voller Narren

Es sind zwei Stunden, die man so schnell nicht vergisst. Zwei Stunden, die sich in den Windungen des Gehirns festhaken. Die dem Ensemble vor allem körperlich alles abverlangen, den Zuschauer mit äußerst sensiblen Antennen fast schon über die Grenze des Erträglichen auf der geistigen Ebene viel zumuten. Zumindest denjenigen unter ihnen, die mehr sehen möchten als die reine Ästhetik von Bewegung. Sicher möchte der Nürnberger Ballettchef Goyo Montero auch optische Seelenschmeichler schaffen, dem Gott des Ballett seine Referenz erweisen. Aber er ist auch ein zutiefst nachdenklicher, politischer Mensch. Es interessiert ihn, was außerhalb der Mauern des Staatstheaters Nürnberg geschieht. Es lässt ihn nicht kalt. Und er lebt mit der neuesten Inszenierung, die nun ihre Uraufführung hatte seine spirituelle Seite aus. „Narrenschiff“ – der Titel des zweiteiligen Ballettabends – bezieht sich auf den  explosiven zweiten Teil eines sehr konträren Abends.

Das Bild einer Frau, die der Zeit voraus ist

Der erste Teil des Ballettabends ist einer Frau gewidmet, um die sich auch heute noch zahlreiche Legenden und Mythen ranken. Maria Magdalena. Goyo Montero zeichnet das Bild einer Frau, die seiner Ansicht nach ihrer Zeit voraus war. Das Bild einer ebenbürtigen Partnerin von Jesus, ihrem Seelengefährten. Das Bild einer eigenständigen Frau, die alles andere als „mainstream“ war. Ein Thema mit wahrhaft biblischen Ausmaßen. Eines, an das man sich erst einmal herantrauen muss. Und eines, das schon lange gärt, eine lange geplante Zusammenarbeit mit dem russischen Weltstar Diana Vishneva (genauer: mit der Diana Vishneva Foundation) wahr werden und damit nach eigener Aussage Goyo Monteros zu einem Höhepunkt seiner langjährigen Laufbahn am Staatstheater werden lässt.

Diana Vishneva ist Maria Magdalena – mit jeder Faser ihres Körpers

Diana Vishneva ist Maria. Tanzt Maria. Leidet Maria. Kämpft Maria. Das teils live, teils mit Musik vom Band wirkende Orchester im Orchestergraben lässt einen schon zu Beginn des Maria-Teils zusammenzucken, unter düsteren Tönen aufhorchen. In akustisch dramatischen Höhen findet man eine sich im Dunkel – auf einer Vulkanebene? einem Meeresgrund? – wälzende Gruppe Menschen. Ein einziger, pulsierender, fließender Körper. Man mag an eine Amöbe denken, deren Körperteile gleichzeitig in alle Richtungen streben. Wellenartige Eruptionen bringen eine Person hervor, vom winzigen Lichtstrahl beleuchtet. Maria Magdalena. Sie bäumt sich in einem silbern glänzenden Meer wie eine Gebärende auf; die silberne Fläche bauscht sich zu einer gebirgigen Landschaft auf, in der sie zur Besinnung kommt. Schreiende, quasselnde, wirbelnde Leiber – ein akustischer Angriff auch für die Zuschauer, der durch Mark und Bein geht. Durch dieses Meer an Leibern hindurch muss sich Maria immer wieder aufs Neue einen Weg zu Jesus bahnen.

In New York kommt Goyo Montero in den Sinn

Die in den USA lebende russische Komponistin Lera Auerbach hat gut getan, ihre Idee eines „Ballett Maria“ auf der Basis der Musik von „Dialoge mit Stabat Mater“, einem mehrstrophigen und ab dem 15. Jahrhundert mehrstimmig vorgebrachten Reimgedicht der ihren gekreuzigten Sohn betrauernden Maria mit dem Nürnberger Choreografen Montero umzusetzen. Dieser arbeitet in diesem spirituellen Teil des Abends mit raffinierten Details. Die Bekleidung seines Ensembles erinnert an die Antike, lässt viel Blick auf nackte Haut zu. Und man ist überrascht, wie vielfältig, wie aussagekräftig der Einsatz von Rettungsdecken sein kann. Mal kehrt Montero deren kalt-silbrige Seite hervor, mal deren blendend-warme Gold-Seite. Mal wogt das kühle Meer, mal wärmt die Sonne das Geschehen auf der Bühne. Dann wieder reißen sich die Mitglieder seines Ballettensembles Stücke aus dem Stoff, wickeln sich ein, bauen daraus Balken für den Kreuzweg – den Maria übrigens hier gemeinsam mit Jesus geht. Das Kreuz zu tragen ist nicht nur Männersache. Und Diana Vishneva: Sie lebt Maria Magdalena, sie ist Maria Magdalena, bis zur letzten Salbung, dem Abschied und dem Aufbruch. Mit jeder Geste, mit jeder Faser ihrer hingebungsvollen Art zu tanzen. Es ist unmöglich, sich an ihrer Darbietung satt zu sehen. Das Nürnberger Ensemble begleitet sie dabei respektvoll, aber durchaus auch selbstbewusst Akzente setzend.

Das Narrenschiff nimmt seine Fahrt durch die Geschichte der Menschheit auf

Schnitt. Pause. Und dann: von wegen Ausklingen lassen, sich erholen. Mit Volldampf nimmt das Narrenschiff mit seiner skurrilen menschlichen Fracht Fahrt auf. Volldampf voraus, an fantasievoll gekleideten Gestalten (diesmal nicht gender-neutral) ist kein Mangel. Clowns, Narren, Wirbeltierchen, der bunte Schirm geht mitsamt der Mannschaft in der mit einem Mal aggressiv sich türmenden Rettungsdecken-See unter, die zappelnde Gruppe wird an Land gespült. Auch der Mann mit seiner hoch sich auf dem Rücken türmenden Lebenslast ist dabei. Er wird sie nicht los. Kaum das letzte Wasser ausgespuckt geht das Gerangel um die besten Plätze wieder los. Es ist ein Stoßen, Beißen, Kratzen und doch schimmern immer wieder in der Menge der Flüchtenden Gesten der Mitmenschlichkeit auf: ein Arm wird gestützt, eine Schulter zum Anlehnen angeboten.

Wo ist das rettende Ufer, die bessere Welt?

Der erste, vergeistigte, mysthische Teil mündet in einen anstrengenden Teil mit einer apokalyptischen Weltuntergangsstimmung. Und wieder krönt Goyo Montero diese Darbietung mit einem bejubelten Star: Der aus dem Opernensemble des Hauses kommende Sopranistin Emily Newton kommt nicht nur die Aufgabe zu, Lieder von Richard Strauss in einer außerdem mit Eigenkompositionen von Owen Belton auch aus musikalischer Sicht hochwertigen Abend zu singen. Sie bringt sich außerdem schauspielerisch und in viel Tüll gehüllt einerseits als Retterin der nach einer neuen Heimat suchenden Flüchtlinge ein, die gleichzeitig zur blutsaugenden, verschlingenden Chimäre wird. Das kunstvoll eingesetzte und unglaubliche Möglichkeiten ausschöpfende Stilelement Rettungsdecke wird mit der entsprechenden Beleuchtung zu einem Meer aus blubberndem, stoßweise hervorquellenden Meer aus Blut.

Kommen die Flüchtlinge in einer besseren Welt an? Man weiß es nicht. Man wird es nie wissen. Die Leiber türmen sich zu einer Art Streitwagen, auf dem hoch oben eine Person die Peitsche schwingt. Es sind starke Bilder, es sind beängstigende und gleichzeitig faszinierende Bilder, die Goyo Montero schafft. Auch wenn es nicht nur Friede, Freude, Eitelkeit ist, was er bedient: Sein Stil ist es nicht, abgehackte, roboterähnliche Gesten zu servieren. Alles fließt, alles verwebt sich ineinander, fließt auseinander, wieder zusammen. Kein Mensch existiert allein – auch wenn er es wollte. Besonders ergreifend in einer Szene des Abends dargestellt, bei der die Köpfe zweier Tanzenden über einen Nylonschlauch gleich einer Nabelschnur miteinander verbunden sind.

Anspruchsvolle Literatur als Basis

Goyo Montero ist nicht nur ein Meister der Choreografie. Er recherchiert Themen ausführlich. Bei der Ausarbeitung von „Maria“ hat er sich von der Lektüre „Das Evangelium von Jesus Christus“ von José Samaragos und dessen These der gleichberechtigten Partnerschaft Marias mit Jesus inspirieren lassen; beim „Narrenschiff“ war es das 1494 erstmals gedruckte gleichnamige Werk des Humanisten und Juristen Sebastian Brant, der darin Narren vorstellt, die ihre Autonomie des Handelns missbrauchen und damit ihre Chance auf christliche Erlösung vertun. Bei Montero ist es nie „einfach nur“ Tanz, schöne Bewegung, es sind nie „einfach nur“ ergreifende Szenen, die sich in die Erinnerung tätowieren. Im Prinzip durchläuft das Publikum einen ähnlichen Prozess wie beim Dekantieren eines guten Weines: Es schnuppert, es lässt den Tropfen auf der Zunge zergehen, den Gaumen streicheln und ist überrascht über das, was als Nachgeschmack und wie ein Ausrufezeichen zu spüren ist. Die Stücke von Goyo Montero sind mehr als Tanz, als Ballett in seiner höchsten Vollendung: Sie sind immer auch eine Aussage, tragen eine politische Komponente in sich, gehen der Gesellschaft „an den Kragen“ und den Zuschauern unter die Haut. Was bleibt sind ästhetische Bilder von Bewegungen und eine Nachdenklichkeit. Alle für einen? Einer für alle? Wann wird der Mensch aus seiner Geschichte lernen? Begreifen, dass alle Menschen miteinander verbunden sind in der einzigen Welt, die er hat? Mit Sicherheit ein nie zu aufzulösendes Fragezeichen. Es bleiben also noch genügend Ausrufezeichen, die Goyo Montero auf seine unnachahmliche Art setzen kann. Da schippern sie weiter, die Narren, die das Schiff bevölkern, kichernd und keckernd im Sturm Schiffbruch erleiden und prustend auf einem Stück Treibholz wieder ihre Fahrt aufnehmen.

 

Musikalische Begleitung: Staatsphilharmonie Nürnberg; Bühnenbild: Kollektiv Curt Allen Wilmer und Leticia Ganán, Kostümbild: Salvador Mateu Andujar. Musikalische Leitung: Francesco Sergio Fundaró. Gesamtkonzept, Choreografie: Goyo Montero. Licht: Tobias Krauß, Goyo Montero. Kompositionen: Lera Auerbach, Owen Belton und Richard Strauss. Ballett-Dramaturgin: Lucie Machan. Gastsolistin: Diana Vishneva. Gesang: Emily Newton. Solo-Violine: Manuel Kastl, Sebastian Casleanu, Solo-Viola: Ulrich Schneider, Lisa Klotz.

Weitere Vorstellungen im Dezember 2021 und Januar 2021.

Tickets unter www.staatstheater-nuernberg.de

0049 176 81 09 05 78

ROTHstift
Postfach 91 01 26
75091 Pforzheim

srth@gmx.de