Jemanden gehen lassen

Detailliert bis zuletzt

Das Cover zieren aus einer Wiese ragende Mohnblumen-Stängel. Einer von ihnen trägt noch seine knallrote Blütenpracht. Im Dunst des unscharfen Hintergrunds sind weitere Farbtupfer auszumachen. Farbtupfer eines Themas, das eher mit schwarzen Trauerrändern, von Grau ummantelt dargestellt wird. Im neuen Buch des Verlags pinguletta geht es ums Sterben. Und sicherlich traut man der Autorin, der Psychologin Marianne Nolde auch eine gewisse Fachkenntnis zu über die Tiefen der menschlichen Psyche in diesem Ausnahmezustand. Keine Sorge. Es ist kein Fachchinesisch, das auf gut 200 Seiten aufgefächert wird. Es ist eher ein einfach geschriebenes und daher gut verständliches Tagebuch, das die 1955 geborene Marianne Nolde öffentlich macht.

So leicht stirbt kaum jemand

Es geht um ihre Mutter Josefine, die als 91-Jährige erfährt, dass sie einen Tumor im Bauch hat und man nichts mehr für sie tun kann. Das Buch wird als Ratgeber verkauft. Sagen wir es mal so: Jeder, der sich in dieser Situation wiederfindet muss sicher auch seinen eigenen Weg suchen. Zur Bewältigung des emotionalen Teils, der auf einen einströmt. Zur Bewältigung des organisatorischen Teils bis hin zur direkten Frage an den/die Sterbenden/e, wie man denn nun zur Ruhe gebettet werden möchte. Und man muss eben auch Glück haben, auf seriöse und einfühlsame Bestatter (und nicht auf Geldgeier) zu stoßen. Und ein Team um die sterbende Person zu haben, das nicht nur diese gut versorgt, sondern auch auf Fragen und Wünsche der Angehörigen eingehen kann. Marianne Nolde hat Glück gehabt.

Fast wie Fiktion oder ein Wunschtraum

Angesichts der vielen Schilderungen, die einen täglich begegnen und die oft genug ein Horrorszenario entfalten von lieblos behandelten Kranken, von überforderten Mitarbeitern in Pflegeheimen erscheint einem das Buch schon fast als absurd, als überzeichnet. Nicht jede Person ist so voller Optimismus, voller Lebensfreude und gleichzeitig voller Demut, das anzunehmen, was das Leben beziehungsweise Sterben mit sich bringt wie Josefine. Das macht es der Tochter zumindest leichter, die offenbar viel mehr mit diesem Prozess zu kämpfen hat. Pionierin Elisabeth Kübler-Ross wird als Expertin zitiert – das ist sie sicher auch. Kübler-Ross habe, so zitiert Nolde, von Sterbenden wichtige Erkenntnisse erhalten. Diese scheren sich – logischerweise – nicht mehr um Einkaufslisten; es gehe nur noch um den Moment. Und Marianne Nolde kann den Rat der Expertin allerdings nicht beherzigen und holt ihre Mutter nach Hause holen. Es wird dennoch ein harmonischer Übergang ins Jenseits.

Kitsch wird durch lebenskluge Sätze aufgefangen

Wenn auch die Schilderungen von Marianne Nolde fast schon kitschig und zu blumig klingen, so bemüht sie sich doch, ihre Empfindungen, ihre Handlungen detailliert zu schildern, Recherchen einfließen zu lassen, den Leser/die Leserin auch an verschiedenen „Rückschauen“ teilhaben zu lassen. Und es sind immer wieder schön, eingängige Sätze oder Absätze fürs Poesiealbum, die man findet. Wie dieser Absatz: „Ich erinnere mich an die letzte Sterbephase meines Vaters. Ohne dass mir das jemand vorher gesagt hätte, spürte ich den Impuls, dass wir unsere Hände von ihm lösen müssten, damit er den letzten Schritt machen könnte.“ Es sind Sätze wie diese, die das Buch lesenswert machen.

Marianne Nolde „Elf Tage und ein Jahr“ – Verlag pinguletta – ISBN 978-3-948063-25-2 – 17 Euro.

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